Molekülismus (moleculism)

Wolfgang M. Heckl

aus Molecular Aestetics, ed. by Peter Weibel and Ljiljana Fruk

Das Zeitalter des Nanozän

Die mit dem Nobelpreis für Physik im Jahr 1986 an Gerd Binnig und Heini Rohrer ausgezeichnete Erfindung des Rastertunnelmikroskops und bald darauf des Rasterkraftmikroskops hat erstmals ermöglicht im Realraum direkt Atome und Moleküle sichtbar zu machen. Sie hat aber darüber hinaus durch das Konstruktionsprinzip einer die Nanowelt abtastenden Spitze den Feynman´schen Traum des Jonglierens mit einzelnen Molekülen, des direkten Erfühlens der Nanowelt möglich gemacht. Dies war der Ausgangspunkt zur praktischen Umsetzung der Erkenntnisse der Quantenmechanik, die das Demokrit´sche Postulat der Einteilung aller Materie in kleinste Teilchen auf eine physikalische Grundlage gestellt hat. Es war aber damit auch die Geburtsstunde für die Nanotechnologie, die als Querschnittstechnologie nicht nur die praktische Basis der Materialwissenschaften über die Nanoelektronik bis hin zur Nanobiotechnologie und zur Nanomedizin ist, sondern weit darüber hinaus zu einem neuen Nachdenken über Paradigmenwechsel in der naturwissenschaftlich-technischen Kultur, aber auch in der bildenden Kunst und der Malerei anregt (siehe auch: Wolfgang M. Heckl, Die Nanoskala – Schlüssel zum Verständnis der Natur in: Unsichtbares – Kunst Wissenschaft, Hrsg.: Barbara Könches, Peter Weibel, Benteli, 2004 und Wolfgang M. Heckl, Das Unsichtbare sichtbar machen. In: Christa Maar, Hubert Burda (Hrg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Das neue Buch zur Vorlesungsreihe. Köln: DuMont 2004.).

Im Mittelpunkt dabei stehen supramolekulare Selbstassemblierungsvorgänge, die ich Molekülismus genannt habe, weil sie den Molekülen aus dem ein Gemälde aufgebaut ist, ihren Platz im dreidimensionalen Raum geben und damit dem Kunstwerk ihren eigentlichen Sinn vermitteln; solche spontanen molekularen Ordnungsvorgänge sind auch der Ausgangspunkt unserer Untersuchungen zur molekularen Evolution, die auf der frühen Erde vor ca. vier Milliarden Jahren Ausgangspunkt für die Entwicklung geordneter lebender Systeme aus organischen Molekülen waren (siehe dazuJ The Role of Self assembled purine and pyrimidine bases in the emergence of life, S. J. Sowerby, W. M. Heckl, Origin of Life and Evolution of the Biosphere, 28, (1998) 283-310)

Wie abstrakte Gemälde zeigen sich mitunter die Aufnahmen von atomaren Oberflächen, wie zum Beispiel die des Minerals Molybdändisulfid, bei dem man die Schwefelatome als einzelne und zum Teil durch die Verschmierung der Elektronendichtewolken auch zusammenhängend erscheinende hexagonal koordinierte helle volumenhaft anmutende kugelförmige Körper erkennt. Zugleich wird mit dieser rastertunnelmikroskopischen Aufnahme demonstriert, daß es möglich ist ein einzelnes Atom aus einem Kristallverband zu lösen und damit ein atomares Loch zu kreieren. Davor war die atomare aus Schwefelatomen bestehende Kristalloberfläche geschlossen. Da der atomare Abstand 0.16 Nanometer beträgt, erzeugt die willkürliche Entfernung eines Atoms mit Hilfe der atomaren Spitze des Rastertunnelmikroskops das mit dem Guinness Book of Records for the writing of the smallest hole of the world im Jahr 1993 an Wolfgang M. Heckl und John Maddocks ausgezeichnete atomare Bit.

Abb.1: kleinstes Loch der Welt ausgezeichnet mit dem Guinness Book of Records für Wolfgang M. Heckl und John Maddocks 1993. Aus SCIENCE&ART, Wolfgang M. Heckl, 2012 ISBN: 978-3-940396-36-5)

Im Nanozän, dem Zeitalter der Erkenntnissuche bottom up, habe ich mich mit der Frage des Zusammenhangs von Wissenschaft und Kunst aus der Sichtweise eines Physikers, der den Gestaltungsprozeß seines Werkes zu analysieren versucht beschäftigt. Die Analyse des Prozesses wie aus nanoskopischen Vorgängen des Übertragens von Pigmenten vom Pinsel auf die Leinwand ein makroskopisch sichtbares Kunstwerk entsteht hat mich dabei in diminuisierender Weiterentwicklung des Begriffs des Pointilismus auf die Namenschöpfung des meine Malerei kennzeichnenden Begriff des Molekülismus gebracht.

So einfach zu verstehen der Begriff der vom Künstler initiierten gezielten Anordnung von Nanoteilchen auf einer Leinwand zu sein scheint, so verblüffend erscheint mir doch bei näherer Betrachtung der Vorgang und vor allem das makroskopisch sichtbare Ergebnis, hält man sich die Kluft bei der Überbrückung der Dimensionalität vor Augen, die von einzelnen Molekülen ausgeht und dann typischerweise etwa ein Mol, also ca. 6 mal 10 hoch 23 Teilchen an Farbmolekülen zu einem mit bloßem Auge erkennbaren Endergebnis formt.

Folgendes Beispiel soll den Vorgang und damit den Begriff des Molekülismus illustrieren. Es handelt sich hier um ein frühes Werk aus dem Jahr 1995, das einen lachenden Hai zeigt mit dem Titel HAI 1995 STM. molecular art, (Aus SCIENCE&ART, Wolfgang M. Heckl, 2012 ISBN: 978-3-940396-36-5)

Abb.2: HAI 1995 STM. molecular art aus Adeninmolekülen

Abb.3: chemisches CPK-Modell eines Adeninmoleküls

Eine rastertunnelmikroskopische Aufnahme von ca. 10.000 einzelnen Adeninmolekülen, die sich beim Übertrag aus einer Lösung auf eine Oberfläche (dem Malvorgang beim Molekülismus) spontan so anordnen, daß sich ein aus einzelnen kleinen dicht gepackten Molekülen bestehender monomolekularer Film ergibt. Das Besondere an diesem Gemälde sind jedoch die (dunkel abgebildeten) molekularen Fehlstellen, die keinen geschlossenen Molekülfilm haben entstehen lassen. Sie reichen über spontan entstandene Einzelmoleküldefekte (siehe Pfeil 1) bis zu einer zufällig beim molekularen Malvorgang entstandenen Phasengrenze in der kristallographischen Anordnung der lokalen Moleküldomänen (siehe Pfeil 2), die als Ausgangspunkt für die weitere Bildgestaltung benutzt wurde. Die Domänengrenze wurde die Basis für die Umrisse eines Haischädels, der um zwei wesentliche molekulare Elemente ergänzt wurde. Basis dieses nun folgenden Malvorgangs ist die Möglichkeit mit Hilfe der atomaren Abtastspitze des Rastertunnelmikroskops nicht nur, wie im nachfolgend gezeigten Beispiel zum Auftrag von einzelnen Molekülen auf eine Maloberfläche zu benutzen, sondern auch gezielt einzelne Moleküle zu ablatieren. Dies geschieht praktisch durch gezieltes elektromechanisches Auskratzen von einzelnen Molekülen aus der geschlossenen Schicht mit Hilfe des atomaren Pinsels. Einfach zu sehen ist dies an der zwei Moleküle breiten und 20 Moleküle langen ablatierten Linie(siehe Pfeil 3), die etwa 10 Nanometer mißt. Diese Technik wurde benutzt, um dem Haikopf sowohl ein Auge, als auch ein lachendes Maul zu geben. Damit ist das erste bewusst gemalte molekulare Bild entstanden, das hier in millionenfacher Vergrößerung sichtbar wird.

Im umgekehrten Vorgang können aber auch einzelne Moleküle mit Hilfe des atomaren Pinsels auf einen Malgrund (hier Silberfläche) aufgetragen werden, wie die nachfolgende Abbildung eines Coronenmoleküls verdeutlicht. Das Pigmentmolekül wird in der rastertunnelmikroskopischen Aufnahme in ca. 10 millionenfacher Vergrößerung als Spitze deutlich, die von zum Teil interferierenden Elektronenstreuwellen in Form konzentrischer Kreise umgeben sind. (aus Coronen on Ag(111) Investigated by LEED and STM in UHV, M. Lackinger, S. Griessl, W. M. Heckl, M. Hietschold, J. Phys. Chem. B 106, 4482-4485 (2002))

Abb. 4: Elektronenstreuwelle um ein einzelnes Coronen-Molekül in der Mitte und

Abb. 5: chemische Strukturformel.

Dies ist der singuläre elementare Vorgang des molekülistisch betrachteten Malens, wenn Farbstoffe auf dem Malgrund zur Adsorption gebracht werden. Dies geschieht natürlich in aller Regel nicht mit einzelnen Molekülen, sondern typischerweise mit der Anzahl von Mol.

Analysiert man den Vorgang auf der Nanoskala, so lässt er sich in mehrere Einzelvorgänge unterteilen:

  • Adsorption durch Benetzung des Malgrunds mit den durch den Pinsel aufgenommenen Molekülen

Diesen Vorgang kann man sich molekülistisch mit Hilfe der Theorie des solid wetting erklären. (Supramolecular self-assembly initiated by solid-solid wetting. Trixler, F.; Market, T.: Lackinger, M.; Jamitzky, F.: Heckl, W. M.: In: Cemistry – A European Journal 13, Nr. 27 (2007), S. 7785-7790) Dabei werden die in der Regel in einem Lösungsmittel verteilten Pigmente mit einer Festkörperoberfläche, dem Malgrund in Berührung gebracht. Entscheidend ist nun für die Benetzung, d. h. die Übertragung der Pigmente, das diese nanopartikulär vorliegen und als Festkörper mit einer höheren Bindungskonstante auf die Festkörperoberfläche adsobieren als die Lösungsmittelmoleküle, die dann verdunsten können. Dies leitet den zweiten Vorgang ein:

  • Spontane Selbstorganisation der Moleküle unter den gegebenen Randbedingungen wie Adsorptionskonstanten, Temperatur, Zeit, elektromagnetische Wechselwirkung zwischen Pigment und Substrat und laterale Wechselwirkung der Moleküle untereinander durch chemische Bindungen. Diese Bedingungen sind entscheidend für das Verfließen, das Verdunsten, also letztlich die entstehende Anordnung der Farbe, die dann makroskopisch dem Auge des Betrachters sichtbar wird. Dabei werden die molekularen chemischen Bindungen durch das Prinzip der Energieminimierung bestimmt, die zur Selbstorganisation der Farbpigmente auf dem Malgrund führt, und deren Struktur in molekulardynamischen Rechnungen auch theoretisch mittels physikalischer Modelle mit Computer vorhergesagt werden kann. Dabei kann man verschiedene Hierarchiestufen der beim Molekülismus wirkenden Selbstordnungsphänomene unterscheiden.
  • Selbst-Assemblierung (SA): gegebene Einheiten (z.B. Atome, Moleküle, Legosteine) wechselwirken miteinander nach definierten Nachbarschaftsregeln (speziell stereochemische spezifische Bindungen) unter externen Randbedingungen und bilden eine topologisch concise Struktur (amorph, chaotische Cluster, ausdrücklich nicht geordnet).
  • Selbst-Ordnung (SO) oder gerichtete Selbstassemblierung: ein Selbstassemblierungsprozeß, der zu einem geordneten System führt: in einer, zwei oder drei Dimensionen, definiert durch geeignete Gitterparameter (z.B. ein Kristall)
  • Selbstorganisation (SOG): ein höheres Niveau von Selbstordnung, wobei das gewollte Design von elementaren Baueinheiten oder inhärente Wechselwirkungsregeln zu emergenten Strukturen führen, wobei Systemeigenschaften entstehen, die nicht vorhersehbar waren (z.B. molekulares Codierungssystem DNA, Molekularmaschinen, Fischschwärme, Vogelsschwärme mit Schwarmintelligenz)
  • Selbst- Bau(SB): ein System das mit Hilfe von molekularen Werkzeugen gebaut wurde, wie z.B. Molekularmotoren, Ratschen, Transport- und Speicherbauteile, funktionelle Molekularmaschinen basierend auf einem molekularen Bauplan (z.B. Ribosom, Enzyme, Myosin-Aktin Transport System…)

Beim molekülistischen Malen kommen vor allem die Vorgänge 1 und 2 zum Tragen. Entscheidend ist aber nun auch der Eingriff durch den Maler selbst, der auf makroskopischen, der dritten Ebene, seinen Gestaltungswillen zum Ausdruck bringt, nachdem die beiden ersten Vorgänge letztlich immer unwillkürlich und von der Natur vorgegeben ablaufen.

  • Nachträgliche Beeinflussung durch den Künstler durch molekulares Gestalten, das auf makroskopischer Ebene expremiert wird.

Dieser komplexe Ablauf der molekularen Anordnung, der im einzelnen sicher nicht deterministisch verläuft und auch nicht genau analysiert, geschweige denn im nanoskopischen Detail bewusst gesteuert werden kann, trägt trotzdem im Endresultat zur Gestalt eines gemalten Werkes bei.

Die Verhältnisse soll das folgende Beispiel stellvertretend für viele andere Fälle nochmals durchschaubarer machen. Es handelt sich dabei um die beschriebenen Vorgänge beim Malen mit Krapprot (Alizarin Krapplack C14H8O4) in einer Lösung aus 8-Cyanobiphenylmolekülen auf Graphit.

Abb. 6: Krapprot (Alizarin Krapplack) als makroskopischer Farbausstrich und

Abb. 7: Molekülformel

Polarisationsmikroskopisch betrachtet sieht man die Klumpen aus Pigmentnanopartikel, die sich auf der Oberfläche scheinbar willkürlich verteilen.

 

 

Abb. 8: Polarisationsmikroskopische Aufnahme von Krapprot-Farbpartikeln auf dem Malgrund

Abb. 9: Molekulare Selbstordnung der Farbpigmentmoleküle des Krapplack

Die molekulare Selbstordnung des nun in höchster Vergrößerung vorliegenden Farbstrichs zeigt die einzelnen Krapprotfarbmoleküle als höchst geordnete zweidimensionale Schicht, wobei hier eine Phasengrenze, sowie einzelne molekulare Fehlstehlen deutlich zu erkennen sind.

Nutzt man Molekülmischungen, so kann man diesen Vorgang des molekularen Bauens im Rahmen des Molekülismus sehr ästhetisch gestalten, wobei wiederum auf die Selbstordung mit einer in diesem Beispiel Tendenz zur Selbstorganisation als strukturgebendes Prinzip zurückgegriffen wurde. Hier wurden in einer Strukturmaske aus sechszählig auf dem Malgrund aus Graphit in einer Ebene angeordneten Trimesinsäuremolekülen (in orange)

Abb. 10: Chemische Strukurformel des Trimesinsäuremoleküls

 

 

Abb. 11: Selbstorganisierte molekulare Komposition aus Trimesinsäuremolekülen (C9O6H6) mit koadsorbierten festen (grünlich) und rotierenden (bläulich) Coronenmolekülen (C24H12) in millionenfacher Vergrößerung, aufgenommen mit dem Rastertunnelmikroskop und künstlich eingefärbt

 

Im Grunde könnte man jede Malerei neu betrachten unter dem Begriff des Molekülismus. So zeigt das abschließende Bild eine makroskopische Expression des Molekülismus mit stilisierten DNA-Strängen und erkennbaren Umrissen einzelner DNA-Basenmoleküle.

Der Versuch der Übertragung der rastertunnelmikroskopischen Bildinformation der atomaren und molekularen Zusammensetzung von Gemälden in Tonbilder mittels eines mathematischen Transferalgorithmus ist an anderer Stelle beschrieben, stellt aber eine zusätzliche Dimension der Sicht- und Hörbarmachung der atomaren Nanowelten dar. Ziel dieses Projekts war, ein neuartiges Verfahren zur Darstellung atomarer und molekularer Klanglandschaften zu entwickeln, das die Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst auf dem Gebiet der Quantenphysik zum Inhalt hat. Dazu sollten die rastertunnelmikroskopischen Bilderwelten, die einen faszinierenden Einblick in die unbekannte Welt der Atome und Moleküle erlauben, durch die Vertonung in eine Klangwelt transponiert werden. Damit soll ein bisher völlig vernachlässigter Zugang zu dieser Welt der kleinsten Bausteine der Materie untersucht werden, nämlich der auditive Kanal, der es dem Menschen im Gegensatz zum visuellen Kanal erlaubt, einen andern Teil der Wirklichkeit aufzunehmen. (Das Unsichtbare sichtbar machen – Nanowissenschft als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, W. M. Heckl, in Iconic Turn, Du Mont Verlag, Berlin (2004) und Andrea von Braun Stiftung, Künstlerische Verbindung von Bild- und Tonkanal in der Quantenwelt – Atomare Klangwelten, (2003))

Abb. 12: DNA, 1990, Acryl auf Leinwand, 70 x 100 cm